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13. Okt 2015 Buch: Ein ganzes halbes Jahr
Ein ganzes halbes Jahr
Jojo Moyes (Autorin), Karolina Fell (Übersetzerin)
Louisa führt ein unspektakuläres Kleinstadtleben: Sie arbeitet seit Jahren im selben Café, führt seit Jahren eine Beziehung mit dem selben Mann und wohnt immer noch in dem selben Haus, in dem auch ihre Eltern leben. Es könnte alles ewig so weitergehen – doch dann verliert sie völlig überraschend ihren Job und ist gezwungen, einen anderen anzunehmen: Nämlich den, den wohlhabenden Will zu pflegen, der seit einem Verkehrsunfall vor zwei Jahren fast vollständig gelähmt ist.
Meine Damen und Herren, vielleicht sollte ich vorab erwähnen, dass ich mich nicht mit sensibler Sprache auskenne und entsprechend offen bin für Hinweise, sollte ich mich im Folgenden benehmen wie die Axt im Walde, denn: Ich bin sauer, und zwar richtig.
Alles an Cover und Klappentext schreit, dass es sich hier um eine harmlose Liebesgeschichte handelt, um Mädchen-trifft-Junge, schlichte Romantik. Was aber verschwiegen wird (notwendiger Spoiler ahead): Der 35-jährige Will empfindet sein Leben nicht mehr als lebenswert, und der Termin für seinen professionell begleiteten Freitod steht bereits fest. Seiner Familie zuliebe hat er einem Aufschub von sechs Monaten zugestimmt – sechs Monate, in denen nun Louisa dafür sorgen soll, dass er seine Meinung ändert. Hier geht es also weniger um die (Liebes-) Beziehung zwischen zwei Menschen, sondern um einen Mann, der einen begründeten Entschluss gefasst hat – und eine Frau, die das nicht wahrhaben möchte. Es geht um die Frage, was ein Leben lebenswert macht, und ob Sterbehilfe okay ist … oder eben nicht.
Wäre Ein ganzes halbes Jahr tatsächlich ein Buch, das sich ernsthaft mit diesen Fragen auseinandersetzt, dann hätte ich es von Herzen gerne gelesen. Leider scheitert es völlig an dem eigenen Thema, was in erster Linie daran liegt, dass alle zentralen Charaktere die Gelegenheit bekommen, die Situation aus ihrer Sicht zu schildern, ihre Hoffnungen und Wünsche zu offenbaren – alle, bis auf Will. Gerade der Mann, der im Zentrum der Handlung steht, ist der einzige, der nicht gehört wird. Und so kommt es, dass alle versuchen, Will davon zu überzeugen, dass er immer noch mehr sein kann als der Mann im Rollstuhl, während ihn das Buch exakt darauf reduziert. Es lässt ihn kaum mehr sein als ein Schatten, ein Komparse, eine eindimensionale Requisite, anhand derer Louisa sich entwickeln darf. Und das nehme ich Jojo Moyes richtig übel.
Davon abgesehen habe ich mich über die Anhäufung von Klischees geärgert: Natürlich ist Will ein gebildeter Mann von Welt, während Louisa in ihrer uniabschlusslosen Mittelmäßigkeit herumsumpft. Natürlich verfügt Wills Familie über das notwendige Kleingeld, um in Sachen Pflege, Todeswunschplan und Aufheiterungsprogramm gleichermaßen aus dem Vollen zu schöpfen. Natürlich erweitert Reich den Horizont von Arm, während Arm so viel Ungezwungenheit und Liebe zu geben hat. Entschuldigung, aber ich habe mich soeben womöglich in den eigenen Mund erbrochen.
So gut und flüssig Ein ganzes halbes Jahr auch geschrieben ist (und das ist es fraglos): Ein derart komplexes Thema fast nur einseitig beleuchtet und in eine rührende Anhäufung von Allgemeinplätzen eingebettet vorzufinden, fühlte sich für mich einfach sehr, sehr falsch an.
Jojo Moyes (Karolina Fell): Ein ganzes halbes Jahr
rororo • Pakerback • 544 Seiten • € 9,99
ISBN-13: 978-3-499-26672-0
Buchcover: © rororo