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02. Aug 2013 Buch: 3096 Tage
3096 Tage
Natascha Kampusch
Es ist eher untypisch für mich, zu diesem Buch gegriffen zu haben. Zu den Berichten über Natascha Kampusch habe ich stets eine große Distanz gewahrt – ganz so als könnte ich die Sensationslust der Presse im Alleingang nur durch meine innere Haltung kompensieren. Ich musste nicht en détail wissen, was dieser Mann ihr angetan hatte, um großen Respekt vor ihr und der Courage zu empfinden, mit der sie dem Rummel um ihre Person begegnete. Doch dieser Hass musste doch in direktem Zusammenhang mit irgendetwas stehen – und das hoffte ich, in dem Buch zu finden.
Die Erzählung beginnt lange Zeit vor dem Tag der Entführung, denn Natascha Kampusch fängt ganz von vorne an: Was hat sie als Kind erlebt? Wie wurde sie erzogen? Was hat sie geprägt? Das ist einerseits natürlich sehr schlau, weil es ihr Verhalten während und nach der Entführung in einen Kontext setzt – andererseits hat es mich geschmerzt, dass diese Form der Rechtfertigung überhaupt notwendig war. Derart gespalten las ich das ganze Buch mit dem Bewusstsein, in die Intimsphäre eines Menschen zu blicken, der jahrelang von der Gesellschaft isoliert und grausam behandelt wurde, nur um das eigene Leben nach seiner Befreiung schonungslos von einer breiten Öffentlichkeit diskutiert zu sehen.
Und der Grausamkeiten finden sich genug auf den 284 Seiten: In einem fast nüchternen Tonfall erzählt Natascha Kampusch von dem Verlust ihrer Kindheit und Jugend, von Einsamkeit, Hunger und Folter. Aber eben auch von geistiger Stärke, von der Kunst, sich anzupassen – und von Menschlichkeit.
Als Erwachsener weiß man, dass man ein Stück von sich selbst verliert, wenn man Gegebenheiten erdulden muss, die bis zu ihrem Eintreten völlig außerhalb des eigenen Vorstellungsvermögens waren.
Letztendlich ist 3096 Tage geprägt von dem Wunsch, die Deutungshoheit über die eigenen Erlebnisse zurückzuerlangen und sich freizuschwimmen von der Beurteilung durch diejenigen, die sich ein gebrochenes und schwaches Opfer wünschten, aber eine Natascha Kampusch bekamen: Eine souveräne und kluge Frau, die nicht nur die Schattenseiten ihres Entführers wahrnahm, sondern auch das Gute in ihm anerkannte. Die eben nicht voller Hass ist. Die sich trotz allem ihre Fähigkeit zur Empathie bewahrt hat. Empathie, die ihr selbst verwehrt wurde – selbst nachdem sie sich befreien konnte.
Ich weiß letzten Endes nicht, was mich mehr erschüttert: Die Grausamkeit, mit der der Täter sein Opfer behandelte – oder die Kälte und Distanzlosigkeit, mit der Presse und Mitmenschen Natascha Kampusch auch heute noch begegnen.
Natascha Kampusch: 3096 Tage
Ullstein Buchverlage GmbH • Paperback • 288 Seiten • € 9,99
ISBN-13: 9783548375076
Buchcover: © Ullstein Buchverlage GmbH
21:20h
Christian sagt:
.
21:32h
Karan sagt:
Du sagst es. Du sagst es!
21:50h
Etosha sagt:
Meine Empfindungen dazu sind deinen sehr ähnlich, du hast das ganz wunderbar auf den Punkt gebracht. "… ganz so als könnte ich die Sensationslust der Presse im Alleingang nur durch meine innere Haltung kompensieren"
(Dabei fällt mir auf, dass ich auch demonstrativ wegschaue, wenn ich an einem Autounfall vorbeistaue, weil ich so irgendwie glaube, die Dinge ein bisschen mehr ins Lot zu bringen. Har!)
Das Buch hab ich nicht gelesen, aber es fällt mir nicht schwer, Frau Kampusch auch so größten Respekt entgegenzubringen (nicht, dass du das nicht … du weißt schon :) Was ich eigentlich sagen will: Danke für den schönen Bericht!
22:07h
Hannes sagt:
Wäre es nur Kälte und/oder Distanzlosigkeit, mit der Menschen Natascha Kampusch begegnen - oft (und das hat mich weit mehr erschreckt) war es blanke Wut, Haß (?) und Neid. Und ich fragte mich stets: Worauf? Darauf, dass sie acht Jahre ihres Lebens unter für uns alle unvorstellbare Art und Weise fristen mußte?!
Dieses Buch (ich habe es übrigens als bisher einziges ohne Unterbrechung "durch-gelesen") hat aber bei jenen, die sich trotz aller Vorbehalte ihrer Person gegenüber dazu durchgerungen haben, es zu lesen, ein seltsames aber schönes Phänomen ausgelöst: Sie haben vieles plötzlich verstanden und konnten nachvollziehen, warum Natascha Kampusch nach ihrer Flucht so und nicht anders, nicht versteckt, versucht hat, ihre Erlebnisse zu verarbeiten.
21:55h
Johannes Mirus sagt:
.
09:36h
serotonic sagt:
Etosha, mein Unfallblickvermeidungsverhalten ist recht ganz ähnlich. Und, knicks: Bitteschön!
Hannes, es freut mich zu hören, dass ihre Bemühungen nicht umsonst gewesen sind. (@Hass: Mein Unverständnis ob all des Hasses war ja der Grund, weshalb ich das Buch überhaupt las – ich habe die Artikel nochmal oben verlinkt.)