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19. Mai 2012 Ein ❤ für Paketboten
Vor einiger Zeit bestellten der Mann und ich Pizza. Wir überschlugen grob, dass der Preis der Pizzen inklusive der zusätzlichen Belagzutaten bei 14,50 Euro liegen müsste – was praktisch war, denn wir hatten überraschenderweise nur noch 15 Euro im Haus. 50 Cent Trinkgeld für den Pizzaboten also. Wir waren uns unsicher: 50 Cent, reicht das überhaupt? Eigentlich ist das nicht wenig Geld für eine durchaus überschaubare und eh schon arbeitgeberseitig monetär entlohnte Leistung, aber gemessen an der Regel, im Gastronomiesektor etwa die Hälfte der Mehrwertsteuer als Dank für guten Service hinzuzurechnen, deutlich unterdimensioniert.
Dann sah ich diese Sendung, und was eigentlich direkt auf der Hand lag, ging mir im Geiste wie ein Feuerwerk auf: Traditionsgemäß bekommt der nette junge Mann, der sich als Pizzabote ein Beibrot verdient, ein anständiges Trinkgeld – wohingegen der Paketbote, der seinen Lebensunterhalt mit schwerer Paketschlepperei bestreitet, mit einem freundlichen Danke!
vorlieb nehmen muss. Wenn er Glück hat.
Wenn er Pech hat, ist er Teil eines Systems, das die Menschen gnadenlos ausbeutet, die mir meine Onlineeinkäufe so praktisch und schnell nach Hause liefern – und bezahlt sein beschämend geringes Einkommen mit nichts weniger, als mit seiner Gesundheit. Natürlich unterscheiden sich die einzelnen Paketdienste diesbezüglich voneinander, doch setzen auch Logistiker immer häufiger auf Subunternehmer, die selber nur selbständige Fahrer engagieren, die wiederrum ihr eigenes Kapital (Körper, Karre, Kraftstoff) einbringen müssen, um die Fuhren auszubringen. Man kann sich leicht ausrechnen, wie viele Pakete ausgefahren werden müssen, damit für jeden in dieser Kette Einkommen übrig bleibt.
Ich hingegen zahle in der Regel gar nichts dafür, dass dieser Mann seinen (oder in Ausnahmefällen: diese Frau ihren) Job macht: Ich kaufe meist dort ein, wo Versandkosten ab Summe X entfallen, und bin zudem auch noch Amazon-Prime-Mitglied. Zudem scheint intensives Onlineshopping auch beim Durchschnittsverbraucher angekommen zu sein, denn mittlerweile nehme ich an manchen Tagen so viele Pakete für mich und meine Nachbarn an, dass es sich lohnt, Logistikerbingo zu spielen: DHL, dpd, Hermes, UPS, gls – BINGO! Vom praktischen Federgewicht bis zur höllisch schweren und sperrigen Tiernahrungslieferung ist alles dabei und wird mir direkt in den zweiten Stock getragen, meist ohne zu klagen oder allzu genervt zu schnaufen.
Jahrelang habe ich mich nur bedankt, vielleicht an besonders heißen Tagen auch mal ein Glas Wasser angeboten – aber auf die Idee gekommen, mich persönlich bei diesen Menschen erkenntlich zu zeigen, bin ich nicht. (Ausgenommen das eine Mal, als wir dem DHL-Boten eine Weihnachtskarte schrieben und einen 5-Euro-Schein beilegten – eine an sich schöne Idee, die es aber irgendwie nicht in die Folgejahre schaffte.)
Von der Reportage aufgerüttelt, haben wir mit etwas begonnen, von dem ich erst Angst hatte, dass es gönnerhaft wirken könnte: Wir gaben Trinkgeld. Für jedes Päckchen, das an uns adressiert war, wechselten plötzlich 50 Cent ihren Besitzer, und alle Boten waren in erster Linie eins: Überrumpelt. Sie waren es so offensichtlich nicht gewohnt, dass man sich bei ihnen bedankt, dass manche von ihnen vor lauter Lächeln fast hinten übergefallen wären. Sie schienen davon überrascht, überhaupt persönlich bedacht und wahrgenommen zu werden, vielleicht haben sie auch einfach nicht damit gerechnet, dass man ihnen ohne geschäftlichen Zweck in die Augen schaut und einen kleinen Moment Freundlichkeit schenkt. Wie schrecklich ist das bitte? Da hetzt Tag für Tag eine Armee schwer bepackter Menschen von Haustür zu Haustür, spart uns allen viel Zeit und Geld, und hat wirklich keinerlei Routine darin, etwas Trinkgeld entgegenzunehmen?
Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich kann und will auf diesem Wege nicht kompensieren, dass Paketboten schlecht entlohnt werden; ich bilde mir auch nicht ein, dass meine 50 Cent am Ende des Tages ihre Lage verbessern. Aber wenn ich schon lediglich via Mischkalkulation für ihre Arbeit bezahle, dann will ich wenigstens signalisieren: Ihr tut da etwas für mich, das ich sehr schätze. Danke, dass ihr mir meine Pakete bringt und dabei freundlich seid. Nach meinem Verständnis hat ein Paketbote das nämlich genauso verdient, wie ein Kellner, Taxifahrer – oder eben Pizzabote.
18:50h
Matthias Mees sagt:
Im Grunde haben wir eine fürchterliche Trinkgeld-Kultur – wir geben üblicherweise welches, wenn wir ohnehin etwas zu bezahlen haben und runden dann normalerweise auf, was bedeutet: Wir machen uns eigentlich keine Gedanken, was uns die Leistung bzw. eventuell „Mehr“-Leistung wert ist. Wir vermeiden lediglich den Austausch von Kleingeld.
Nun habe ich 15 Jahre in so einem Job gearbeitet und kann sagen: Muss auch nicht immer sein. Ich habe auch Leute gerne durch die Gegend kutschiert, die kein Trinkgeld gaben. Mag sein, dass das primär die waren, bei denen man wusste: Hat’s nicht so dicke, ist aber immer nett und freundlich. Auch das hellt den monotonen Alltag im Drecksjob auf.
(Womit ich wiederum nicht sagen will, man solle Paketboten kein Trinkgeld geben.)
21:50h
Uschi Ronnenberg sagt:
Sehr schön. Das sollten sich viele, die schon mal gerne den "Herrenmenschen" geben, mal zu Gemüte führen.
Ich kenne die Namen "meiner" Paketboten und rede sie damit an, habe auch immer ein nettes Wort über das Notwendige hinaus; zu Weihnachten bekommen sie eine Anerkennung in Geldform. Es scheint o.k. zu sein, denn ich erfahre ausgesprochene Freundlichkeit und Zuvorkommenheit.
00:02h
Stefan sagt:
Nachdem ich eben vom Champions-League-Endspiel nach Hause gekommen bin, finde ich diesen Beitrag bei Rivva. Eben noch habe ich bei einer 18 Euro Rechnung kurz nachgedacht, ob ich nun 19 oder 20 Euro zahle und mich für 20 entschlossen, weil 19 dann doch zu geizig ausgesehen hätte. Gleichzeitig habe ich noch nie einem Paketboten ein Trinkgeld gegeben. Auch wenn ich selten online bestelle, scheint da was d’ran zu sein. Trinkgeld gebe ich meist nur, wenn es üblich ist, nicht wenn es abgebracht ist. Mal ein Grund, über sein eigenes Verhalten nachzudenken. Ich glaube, ich deponiere mal ein paar Münzen an der Eingangstür.
12:01h
Plor sagt:
Schöne Idee, die auch mich dazu bringt, nochmal über das eigene Trinkgeld-Verhalten nachzudenken. Für den nächsten Paketboten wird ein Euro zur Seite gelegt…
13:55h
ED sagt:
Es wäre wirklich schön, wenn man eine persönliche Beziehung zu den Dienstleistern aufbauen könnte und so eine Möglichkeit der Wertschätzung ihrer Arbeit gewänne. Doch ist das überhaupt möglich? Ich nehme mehrmals wöchentlich Pakete für mich oder andere Mietparteien entgegen und glaube, bisher fast keinen der Paketboten öfter als 2-3 Mal gesehen zu haben.
15:22h
Johannes sagt:
Schöner Text, schöner Ansatz und eine Nachdenkanregung. Für Otto Normal, wie ich einer bin, leider nur schwer umsetzbar. Ich nehme meine Pakete fast ausschließlich über Packstation, selten auch über Kioske und ähnliche Paketaufbewahrungsstellen entgegen. In ganz großen Ausnahmefällen nimmt auch mal ein Nachbar ein Paket an, das sind aber die Sendungen, mit denen ich nicht gerechnet habe und deshalb den Versandort nicht mit meinen Arbeitszeiten abgleichen konnte.
Was ich damit sagen will: Selbst wenn ich wollte, ich könnte den Boten kein Trinkgeld geben. Und ich finde das schon irgendwie gut, schließlich heißt das, dass mein Dienstleister es hinbekommt, mir Dienste zu leisten, die ich angemessen finde (also hier: Anlieferung an eine zeitlich flexiblere Abholmöglichkeit).
[Zu einer anderen Gelegenheit müssen wir mal darüber diskutieren, warum ich Trinkgeld als Konzept sowieso bescheuert finde, weil es meistens impliziert, dass der Arbeitgeber das mit in dem Lohn einrechnet (siehe Gastronomiebereich).]
16:57h
Anna sagt:
Trinkgeld im eigentlichen Sinne habe ich bisher nicht gegeben, aber so vor Weihnachten und Ostern gibt’s dann Schokolade von L*indt oder ähnliches. Die Paketfahrer freuen sich.
14:10h
serotonic sagt:
Matthias, ich denke auch, dass Freundlichkeit und Entgegenkommen unterm Strich das Wichtigste sind. Als ich vor Äonen in der Videothek arbeitete, gab mir so ein Businesskasper immer viel Trinkgeld, und meinte, mich im Gegenzug wie Nutzvieh mit Brüsten behandeln zu dürfen, der hätte sich seine Scheinchen auch gerne bis zum Anschlag in den, nun ja, ganz tief jedenfalls.
Andererseits ist eine ausgeprägtere Trinkgeldkultur, die über die Vermeidung von Kleingeld hinausgeht (wie die US-amerikanische zum Beispiel) auch gefährlich, siehe Johannes Ansatz.
Uschi, unser DHL-Bote hat mir seinen Namen schon mindestens drei Mal gesagt, ich kann ihn mir einfach nicht merken. Kommt vielleicht auch daher, dass er mir seit Jahren in die Gegensprechanlage fötet, »der Weihnachtsmann« sei da.
ED, hier ist’s im Grunde immer eine Stammbesetzung mit wenig Fluktuation, das macht die Sache natürlich einfacher.
Johannes, ich vermute auch, dass solche Sammelstellen die Arbeit von Paketboten durchaus erleichtern, das ist unterm Strich sicher genauso hilfreich ;)
[Ja. Müssen wir unbedingt; seit dem USA-Urlaub letztes Jahr will ich da eigentlich was zu schreiben und komme nie dazu.]
Anna, ich denke auch nicht, dass Geld unbedingt der Schlüssel ist. Ein Glas Wasser, eine kleine Aufmerksamkeit, ein freundliches Wort, ein Entgegenkommen auf dem halben Weg treppab, ein bisschen alberner Smalltalk … oder auch, dass man selbst Pakete für den Arschlochnachbarn entgegennimmt, dem man eigentlich noch nicht mal die Tageszeit sagen möchte – damit der freundliche Hermes-Junge nicht (im wahrsten Wortsinne) umsonst ums Haus gelaufen ist.
09:57h
april sagt:
Genau, letzteres ist es: Wertschätzung, Anerkennung. Unser netter Paketbote nennt mich immer beim Namen und als ich neulich fragte: "Wie heißen Sie denn … damit ich Sie auch mit Namen anreden kann …?" da war er so erstaunt und erfreut … Das hätte ihn noch nie einer gefragt. Womit man doch andere Menschen glücklich machen kann!