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11. Aug 2009 (N45)
So sehr ich auch mit den Inhalten der Piratenpartei sympathisiere, so sehr sind mir ihre Mitglieder unheimlich. Manche. Manchmal. Zumindest.
Es ist die starke Identifikation mit einer politischen Linie, die in meiner Wahrnehmung von außen das Gefühl vermittelt: Da verschwindet gerade ein Mensch, während eine Einstellung das Ruder übernimmt. Und ich möchte hier das Wort fanatisch fallen lassen, obwohl es in diesem Zusammenhang so gefährlich wie missverständlich ist, ich bin da mal mutig und vertraue auf eine differenzierte Wahrnehmung dieser Zeilen.
Es ist nun mal so, dass es mich befremdet, was Parteizugehörigkeit mit Menschen macht. Auf Twitter, zum Beispiel: War da früher ein Netzbewohner, über dessen Gedanken ich geschmunzelt habe oder der mir aus seinem Alltag erzählte, sehe ich da heute einen Piraten, der quasi tagesfüllend Productplacement für seine Partei betreibt. Der nicht mehr sagt: Hallo, ich bin der @xy, das und das zeichnet mich als Mensch aus, und nebenbei find ich töfte, was die Piraten machen
, sondern: Hallo, mein Name ist @xy, und ich bin Pirat.
Das ist [Achtung, gefährlicher Exkurs ahead!] ungefähr vergleichbar mit der Euphorie der Apple-Fanboys. Die ist mir in eben solchem Maße unheimlich: Der Eindruck, ein Mensch würde nicht Produkt XY benutzen, weil es gut ist, sondern sich darüber definieren, dass er etwas Gutes benutzt. Ich schau dann immer ein wenig verwundert und vermisse erst einmal Substanz. Nur bei den Wenigsten bin ich überhaupt motiviert, danach zu suchen und hinter die Kulisse aus Markenideologie zu blicken. Ich ziehe lieber weiter, bevor missionarischer Eifer meine Sozialsynapsen strapaziert.
Es würde mich jedenfalls kaum verwundern, würden eines Tages zwei junge Männer mit unter den Arm geklemmten Macbooks an meiner Türe schellen und mit weicher Stimme Wir würden gern mit Ihnen über Apple reden
intonieren; wobei ihre Zähne und Turnschuhe in ihrer blendenden Weißigkeit gar wundervoll korrespondieren würden.
[Gefährlicher Exkurs Ende.]
Rein inhaltlich hat das sicher nichts mit meiner Kritik an Mitgliedern der Piratenpartei zu tun; Äpfel mit Birnen, ich weiß, haha. Es beschreibt aber ziemlich gut das geradezu sektenartige, das alles umhüllt, was aus einem „Ich mag“ ein „Ich bin“ macht. Vielleicht sind es somit ja gar nicht die Piraten im Speziellen, vielleicht fallen sie mir nur gerade am ehesten auf. Vielleicht ist es unfair von mir, dass ich mich mit meinem Unwohlsein gerade auf die Mitglieder einer jungen Partei schmeiße, die genau diese Art von Zusammenhalt braucht, um wachsen zu können. Und vielleicht ist es auch in erster Linie dumm, da ich mir doch den politischen Erfolg für die Schwarzbeflaggten ebenfalls wünsche.
Aber dieser Wechsel vom Individuum zum herdengetriebenen Überzeugungswillen ist der Grund, warum ich kein Parteibuch haben wollen würde. Von welcher Partei auch immer.
Ich möchte hier weder das Für, Wider, Ob oder Warum der Piratenpartei diskutieren, mir geht es allein um die Kollateralschäden durchaus negativen menschlichen Auswirkungen im Zuge der Politisierung von Individuen. Inhalte diskutieren ist super, machen aber schon andere und das an wesentlich interessanterer Stelle, und mich muss hier keiner überzeugen.
14:06h
Garvin sagt:
Kurz gesagt: Ja.
Länger: Ja, aber.
Ich denke, dass der Enstehungsgrund bzw. Mitgänger-Grund für das Piratentum deutlich definiert ist durch eine explodierte Emotionalität bei der Unterdrückung der großen Volksparteien von Begehrlichkeiten der Internetuser.
So eine Emotionalität und persönliche Identifikation ist zur Zeit IMHO sehr wichtig, um die Partei ins Gespräch zu bringen, Diskussionen zu führen, andere Emotionalitäten aufzugreifen und Euphorie, Änderungswille zu demonstrieren.
Ohne Galleonsfiguren, die gerade ihre Individualität zugunsten eines Ideals opfern, würde es an Führungskraft mangeln, an dem gewissen "der ist so toll, dem trau ich was zu".
Dass das gerade den Benutzerkreis trifft, den Du sonst aufgrund seiner Individualität schätzst, liegt halt daran, dass eben jene User der Kern der "Explosionsgruppe" von Piraten sind.
Ich denke, das wird sich mittelfristig einpendeln, und solange sind solche kritischen Anmerkungen wie Deine auch nötig, um den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren, und am Ende nur wieder einer von "den Politikern" zu sein.
14:44h
andré sagt:
[sic!]
14:47h
grunt sagt:
Ich bin Piratensymphatisant und danke Dir vielmals für diesen Beitrag. Es ist sehr wichtig, die Piraten auch mal aus solch einer Perspektive zu sehen.
14:51h
grunt sagt:
Noch Etwas: Die Identifizierung einer Selbst mit den Piraten muss nicht von fanatischer Natur sein. Sehr schön demonstriert das dieser Film.
14:55h
Thomas Nesges sagt:
Habt ihr gut gebrüllt! Sowohl die serotonic, als auch der supergarv :)
15:10h
Ormus sagt:
Ich sag mal: Die Welt ist grau und nicht schwarz & weiss. Klar gehen in parteilichen Strukturen Persönlichkeiten unter, anderseits gehen darin auch Persönlichkeiten auf. Der Einsatz vieler für gemeinsame Ziele erfordert immer Teamwork. Kleines Zitat als Beweis: "Wir sind das Volk!"
Brauchst auch keine Angst zu haben, denn in diesem Fall arbeitet die ‘graue Masse’ dafür, die bunte Person zu ermöglichen…
15:35h
Kathi sagt:
Ich les hier schon ne Weile mit und muss ehrlich sagen, dass du mit diesem Beitrag absolut getroffen hast, was ich schon lange denke, sowohl in der Hauptsache wie auch im Exkurs. Daumen hoch! Das musste mal gesagt werden….
15:42h
studentenleben sagt:
Ich stimme dir da in großen Teilen zu, wenn man natürlich nichts pauschalisieren kann.
Auch einer meiner Bekannten ist ein Pirat geworden. Unglücklicherweise kann man mit ihm jetzt nur mehr über Politik reden, und da er für mein Verständnis eine ziemlich absurde Meinung hat (am besten jeder darf alles machen, was er will), will ich mit ihm auch nicht mehr reden und so werden wir uns wohl sehr bald gar nix mehr zu sagen haben, sehr schade.
Das hat aber auch nicht mit den Piraten speziell zu tun, die sind ja Gesetzen an sich gegenüber prinzipiell nicht absoult negativ eingestellt.
18:48h
HerrSch sagt:
Kein wenn oder aber, Frau Serotonic - danke.
09:39h
Weirdo Wisp sagt:
Ach, ich glaube, bei vielen geht diese fast fanatische Identifikation mit dem Piratendasein und der Politik auch wieder vorüber. Jetzt sind erstmal die Wahlen – da ist solche Werbung sogar nötig –, danach wird sich das ein klein wenig beruhigen. (Gerade einmal 0,5 Prozent der Stimmen bei der Bundestagswahl zu bekommen, könnte für viele ernüchternd sein. Ich würde das schon für ein gutes Ergebnis halten.)
Viele Menschen, Netzbürger hatten bisher nicht viel für die Politik übrig. Da konnte man zwar alle paar Jahre wählen, aber nichts bewirken. Die Politiker da oben haben ja doch nur das gemacht, was sie für richtig hielten, was ihnen die Geldkoffer der Lobbyisten und Aufsichtsratsposten brachte. Jetzt gibt es endlich eine Partei, die etwas ändern will. Eine Partei, die auf moderne Kommunikationsmittel setzt, auf Offenheit, auf Mitmachen. Da kann man mitmachen. Es sind coole Leute dabei und für viele Netzbürger interessante Themen. Da will man mitmachen.
Zumal mittlerweile täglich Forderungen von den alten Männern (und Frauen) mit Kugelschreibern, den Internetausdruckern aller Parlamente und Parteien kommen, die hier was verbieten, da was kontrollieren und dort jede Menge überwachen wollen. Dem muß etwas entgegengesetzt werden. Die Informations- und Kommunikationstechnik, das Internet, die Computer ändern unser Leben und unsere Gesellschaft rapide. Die etablierten Politiker und Parteien verstehen das nicht, ja, sie fürchten das sogar, weil es ihren Machtverlust bedeutet, und wollen mit Methoden aus dem letzten Jahrhundert alles kontrollieren.
Piraten und ihr derzeitiges Auftreten sind bitte nötig. Das wird sich auch wieder entradikalisieren, wenn die Zeit gekommen ist. Die Piraten werden oft mit den Grünen verglichen – und die sind nach mehr als zwei Jahrzehnten in Parlamenten auch etabliert und spießig.
Ich habe übrigens auch überhaupt kein Problem mit Apple-Fans.
10:19h
Ebola sagt:
Beim Lesen ist mir ein kleines „na endlich“ heraus gerutscht. Hat niemand gehört…
sic!
10:31h
hugo sagt:
das was Du da schreibst trifft den Nagel sowas von auf den Kopf. nachdem ich das Treiben der Piratenpartei schon seit längerem verfolge und mich mit den Inhalten auseinander gesetzt habe, meldete ich mich also auch in deren IRC-Kanal. und genau da konnte man das verfolgen, was Du wirklich treffend formuliert hast. Pirat sein war für die an der Diskussion Beteiligten m.E. mehr ein Aushängeschild, als dass wirklich inhaltliches und politisches Interesse da war etwas zu bewirken. die Parolen flossen auf Nachfrage zwar am laufenden Band, sobald es jedoch ins Detaillierte ging und Fragen zu speziellen Themenschwerpunkten gestellt wurden, wurde auf Wiki-Beiträge verwiesen und die Teilnahme an der Diskussion sank deutlich.
17:07h
serotonic sagt:
Dankeschön für euer Feedback, aber das sind mir insgesamt noch viel zu viele Allgemeinplätze.
Wie ich oben schon reineditierte, soll es hier nicht um das Für, nicht um das Wider, nicht um das Ob und auch nicht ums Warum der Piratenpartei gehen, sondern um den Verlust des Individuums bei fortschreitender Politisierung, hier anhand des Beispiels mancher Mitglieder der Piratenpartei. Es ist also eher schon Systemkritik, das hätte ich im letzten Absatz deutlicher hervorheben müssen.
Garvin:
Dass das gerade den Benutzerkreis trifft, den Du sonst aufgrund seiner Individualität schätzst, liegt halt daran, dass eben jene User der Kern der "Explosionsgruppe" von Piraten sind.
Ich find, damit triffst du des Pudels Kern schon ziemlich gut.
Es sind aber gar nicht so sehr die Galionsfiguren, die mir aufstoßen. Galionsfiguren sind zumeist die, die schon lange politisch aktiv sind, zumindest im Netz, und die irgendwann kürzlich zumPirat wurden.
Es sind vielmehr die, die jetzt im Zuge des enger werdenen Strickes um den freien Hals plötzlicher politisiert wurden. Quasi von 0 auf 200, mit unangenehmen Übereifer.
Da wird sogar ein #piraten+ angehangen, wenn getwittert wird, dass das soeben gegessene Steak angenehmerweise auf den Punkt war. Sowas riecht unlauter und verspielt Sympathien.
grunt:
Der Spot ist super. Wenn der Grünstich nur nicht wäre ;)
Genau diese unaufgeregte Haltung würde den meisten Neumitgliedern der Piraten gut tun. (Und ich weiß ja, dass es auch nicht fanatisch geht, nicht umsonst schrieb ich eingangs ja "Manche. Manchmal.")
Ormus:
Wovon du sprichst, ist die sehr allgemeine Metaebene. Ich porkel in der persönlichen Subebene herum.
Studentenleben:
Nein, und das nicht nur in prinzipieller Hinsicht, man könnte glatt sagen: Die Piraten finden Gesetze großartig.
(Für anarchistisches Gedankengut wäre die APPD zuständig. Ich würde deinem Freund zu einem Wechsel raten, bei den Piraten wird er so nicht glücklich werden ;))
Weirdo Wisp:
Mal abgesehen von den Phrasen ist genau das der interessante Punkt. Was macht der politische Prozess aus Menschen? Was macht das System aus dem ursprünglich heheren Gedanken, „etwas ändern zu wollen“?
Du sprichst selber die Grünen vergleichend an. Die waren damals auch jung und aufgeregt und laut und hatten Saft im Arsch. Heute sind sie – in mancher Hinsicht – genau da angekommen, wo die anderen Parteien auch sind.
Politik, wie sie jetzt ist, verändert Menschen. Ich habe am einen Leib gefühlt, wie mich politische Arbeit verändert hat, auch ohne parteigebunden zu sein. Man denkt automatisch manipulativer, spricht lauter und stammtischgerichteter, handelt strategischer, und macht viele Abstriche, um wenigstens einen kleinen Teil dessen, was man bewirken will, durchzusetzen. Irgendwann fängt man dann auch noch an, politische Gegner zu diskreditieren, und nur noch „du bist doof und stinkst“ zu rufen, Laienspiel statt Politik zu betreiben.
Und da sage ich jetzt, da mir bei einigen Piraten eben solche manipulative Traktiererei auffällt, dass mir etwas auffällt.
(Und mit Applefans habe ich auch kein Problem. Solange sie sich nicht zu meinem machen.)
Hugo:
Ich lehne mich mal stark aus dem Fenster und stelle die These auf, dass das in dieser Intensität am Medium lag. Das Bild, das du da zeichnest, ist ja noch um einiges dunkler als meine Erfahrung.
13:12h
feinfingr sagt:
Es ist halt sehr erhebend, einer Bewegung angehören zu dürfen, die gerade im Steilflug nach oben zu sein scheint. Der Eindruck etwas bewirken zu können, Geschichte zu machen, beflügelt.
Und: dabei zu sein! Dazu zu gehören.
Insofern finde ich den Apple-Vergleich sahnig.
Mir fällt da so ein Konzert einer in grauer Vorzeit für ihre Demo-Auftritte berühmten Band ein. Es war genau dasselbe: alle reihten sich begeistert und gedankenlos ein, tanzten mit, sangen mit, manche gröhlten mit und ich gehörte zu den Spielverderbern, stand am Rand, skeptisch bis angewidert, wurde von meinen MitbewohnerInnen bei jeder Kreiselumdrehung angstupst, mich doch mit einzureihen, auch dabei zu sein - und konnte nicht.
Ich wollte nicht in der Masse aufgehen, wollte nicht einfach prinzipiell alles richtig finden, was geschah, sondern verspürte geradezu den Zwang, als Sonderling davor zu stehen, mich gar nicht wohl zu fühlen und trotzdem - richtig.
Manchmal ist es schmerzhaft, auf jeden Fall unbequem, aber: man darf nicht aufhören zu denken, und zwar kritisch und das als erstes sich selbst gegenüber.
Danke fürs Zuhören :-)